Unterricht virtuell beobachten und reflektieren – neue Technologien ermöglichen neue Formen der Selbst- und Fremdreflexion angehender Lehrkräfte

Unterrichtserprobungen sind ein fest etablierter Baustein der Lehramtsausbildung. Studierende des Lehramts setzen kurze Unterrichtseinheiten um und erhalten dabei Feedback von beobachtenden Personen – Mitstudierenden, erfahrenen Lehrkräften oder Mentorinnen bzw. Mentoren der Universität. Wenn diese Personen ein Lehr-Lern-Szenario live beobachten, haben sie unweigerlich Einfluss auf dieses, und nehmen dort auch nur eine bestimmte Perspektive wahr. Diese Praxis wollen unser Digital Fellow Prof. Dr. Nadine Bergner von der TU Dresden und ihre Kolleginnen und Kollegen nun verändern. Die Lösung sehen sie im Einsatz von 360°-Videoaufnahmen aus dem Klassenzimmer (an der TU Dresden) und anschließender Reflexion der Unterrichtsszenen mittels VR-Brillen mit begleitender Reflexions-App. Im Interview erfahren wir von ihren ersten Erfahrungen im Einsatz der neuen Beobachtungs- und Reflexionsformen im Teaching Lab der Professur für Didaktik der Informatik an der TU Dresden.

Ihr Vorhaben hört sich nach einem technisch umfangreichen und aufwändigen Vorgehen an.
Können Sie uns näher beschreiben, wie so eine Reflexion der Unterrichtserprobung abläuft und welchen Vor- und Nachbereitungsaufwand Sie damit haben
?

Prof. Dr. Bergner: Tatsächlich bringt das Vorhaben „PraxisCheckUnterricht“ einige technische Herausforderungen mit sich, an deren Lösung wir aktuell tüfteln. Grundsätzlich streben wir zwei Varianten der Beobachtung und Reflexion an: (1) die Live-Beobachtung in einem anderen Raum und (2) die zeitversetzte Beobachtung. Beiden Szenarien gemeinsam ist, dass im Raum der Unterrichtserprobung (im Teaching Lab) lediglich die Schüler:innen, die Lehrenden (bei uns in der Regel drei Lehramtsstudierende, die die Einheit gemeinsam ausgestalten) sowie der Dozierende (für spontane Unterstützung) vor Ort sind. Dieses Lehr-Lern-Szenario wird mittels vier 360°-Kameras aus unterschiedlichen Perspektiven aufgezeichnet.
Unser erster Ansatz war dieses live auf mehrere VR-Brillen in einem anderen Raum zu streamen, in dem dann die Kommiliton:innen dieses Lehr-Lern-Setting beobachten und gemeinsam reflektieren. Diese Variante (1) hat zwar bereits den Vorteil, dass das Lehr-Lern-Setting nicht durch die Beobachtenden gestört wird, aber einige andere Vorteile können noch nicht im vollen Umfang ausgenutzt werden. So gibt es keine Möglichkeit, eine Szene aus mehreren Perspektiven hintereinander zu betrachten. Auch bedeutete eine Diskussion über eine Szene unweigerlich, dass die nachfolgenden Minuten verpasst werden. Nach dem Test der Variante (1) im SoSe 2022 sind wir für das WiSe 2022/23 nun zu Variante (2) übergegangen.
Variante (2) bedeutet, dass die Beobachtung und Reflexion nicht mehr live (und damit parallel) zur Durchführung mit den Schüler:innen, sondern zeitlich nachgelagert, stattfindet. Dies bringt gleich mehrere Vorteile mit sich. So kann sich der Dozierende während der Durchführung auf das Unterrichtsgeschehen konzentrieren und dabei bereits den Zeitstempel fachdidaktisch interessanter Szenen notieren, um eben diese im Nachgang für die Reflexion aufzubereiten. Aufgrund des hierdurch entstehenden Aufwands (Sichtung und Schnitt der Videos aus mehreren Kameraperspektiven) findet die Reflexion in der Regel erst zwei Wochen nach der Videoaufnahme statt. In der anschließenden Reflexion kann sich dank vorbereiteter Szenen auf fachdidaktisch interessante Aspekte konzentriert werden. Beispielsweise lange Freiarbeitsphasen ohne interessante Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden werden dabei übersprungen. In diesem Setting ist es auch möglich, eine Szene mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven (z. B. aus dieser der Lehrkraft und dieser der Schüler:innen) zu betrachten und direkt im Anschluss zu diskutieren, bevor zur nächsten Szene übergegangen wird. Ein weiterer großer Vorteil ist, dass die Studierenden in der Rolle der Lehrkräfte ebenfalls an der Reflexion teilnehmen können und sich selbst bzw. ihr Lehrverhalten in den Videos reflektieren können. Aufgrund dieser Vorteile konzentrieren wir uns im weiteren Verlauf des Projektes auf Variante (2).

Wie akzeptiert ist die Aufzeichnung bei den Schülerinnen und Schülern, die Teil der Unterrichtserprobung sind? Verhalten diese sich anders aufgrund der Kamera im Raum?

Prof. Dr. Bergner: Da alle Akteur:innen aus mehreren Perspektiven gefilmt werden, ist dieses Setting nur umsetzbar, wenn alle Teilnehmenden den Videoaufnahmen zustimmen. Aus diesem Grund laden wir Schüler:innen privat (also außerhalb der Schulzeit) zu diesen Veranstaltungen ein und kommunizieren direkt das Videografie-Setting als Teil dieser Workshops. Die Durchführungen mit privat teilnehmenden Schüler:innen hat auch den Vorteil, dass die Gruppengröße bezüglich der optimalen Bedingungen eingeschränkt werden kann. So fanden die Testläufe im WiSe 2022/23 zu Themen wie Künstliche Intelligenz, 3D-Druck und Lasercutting statt. Solche neuartigen Themenfelder und insbesondere der technologische Anspruch bedingen es, dass die von den Lehramtsstudierenden neu konzipierten Einheiten nicht direkt mit ganzen Schulklassen erprobt werden sollten. Auch für das Videografie-Setting hat es Vorteile, wenn nur 8 bis 12 Schüler:innen teilnehmen, da dadurch interessante Szenen besser zu beobachten sind. Die bisherigen Durchführungen zeigen, dass es sehr geringe Verhaltensänderungen aufgrund der Kameras gibt. Einzelne Schüler:innen waren uns schon aus anderen Workshops (ohne Videoaufnahmen) bekannt und zumindest an denen konnten keine relevanten Verhaltensänderungen festgestellt werden.

Inwiefern verändert sich die Form der Selbst- und Fremdbeobachtung durch das neu gewählte Setting? Erkennen die Studierenden neue oder andere Aspekte durch die andere Form der Beobachtung?

Prof. Dr. Bergner: Insgesamt zeigt sich bei den Lehramtsstudierenden ein großes Interesse an dieser Form der (Selbst-)Reflexion. Insbesondere an den Aufnahmen der eigenen Lehrperformance besteht hohes Interesse, vermutlich da sie bisher nie die Möglichkeit hatten, sich selbst in einer Lehrsituation von außen zu beobachten. In der ersten Pilotierung im SoSe 2022 in Variante (1) gelang es den Studierenden bereits, selbst fachdidaktisch relevante Stellen herauszuarbeiten. Deren Diskussion war im damaligen Live-Reflexionssetting jedoch nicht so umfassend möglich, da die Durchführung live voranschritt. Daher erhoffen wir uns für das neue Setting in Variante (2) mehr Raum für tiefergehende Diskussionen fachdidaktisch interessanter Aspekte. Da nun alle Lehramtsstudierenden gemeinsam die Reflexion durchlaufen, kann nun auch die Lehrendenperspektive einbezogen werden. Auf die Ergebnisse dieser Reflexionen sind wir sehr gespannt und werden danach das Setting wieder den Erfahrungen entsprechend anpassen.

Wie kommen die Studierenden mit der VR-Brille und der Reflexions-App zurecht?

Prof. Dr. Bergner: Im SoSe 2022 fand die Beobachtung noch über „normale“ Kameraaufnahmen aus vier Perspektiven im Raum statt. Die vier Videoaufnahmen wurden so zusammengeschnitten, dass alle vier Perspektiven auf einem großen Display den Beobachtenden präsentiert werden konnten. In der Reflexion zeigte sich, dass dies eine große Herausforderung bzgl. der Orientierung im „virtuellen Raum“, mit sich brachte. Sobald sich Personen im Raum bewegten, war es sehr mühsam auf den vier Kamerabildern zu suchen, wo die Szene am besten zu beobachten ist. Dieses Problem wird nun durch die vorherige Auswahl interessanter Szenen und der Betrachtung mittels VR-Brillen behoben. Die Studierenden tauchen für die Beobachtung nun in eine 360°-Perspektive ein und sehen die Szene zuerst einmal komplett aus dieser Perspektive. Wenn es eine weitere interessante Perspektive gibt, kann diese im Anschluss eingenommen werden. Dies ermöglicht es, einen klareren Fokus zu behalten und der Überforderung durch die gleichzeitige Betrachtung einer Szene aus mehreren Perspektiven vorzubeugen. Aktuell ist es technisch noch nicht möglich Feedback (Beobachtungen, Verbesserungsvorschläge etc.) direkt in der VR-Reflexions-App festzuhalten. Momentan können die 360°-Videos in der Reflexions-App betrachtet werden, die eigentliche Diskussion findet anschließend komplett offline statt. Das angestrebte Setting, dass bei der Betrachtung der Videos bereits individuell Feedback in der App gespeichert werden kann, welches zur anschließenden gemeinsamen Reflexion in Präsenz genutzt wird, können wir erst im SoSe 2023 erproben.

Können Sie Ihr Vorgehen für weitere Beobachtungssituationen von Berufspraxis weiterempfehlen?

Prof. Dr. Bergner: Eine Verbesserung der Qualität der Lehre muss für alle Lehrenden (an Schulen wie Hochschulen) das vorrangige Ziel sein. Neben der räumlichen und technischen Ausstattung, der Qualität der Konzeption der Lehre bzw. des Unterrichts wie auch diese der Lehr-Lern-Materialien spielt dabei die Lehrkompetenz eine entscheidende Rolle. Dazu bietet das Digital Fellowship Projekt „PraxisCheckUnterricht“ eine zusätzliche Möglichkeit, dass angehende wie auch erfahrene Lehrende sich selbst bzw. ihr persönliches Lehrverhalten reflektieren. Dazu braucht es jedoch ein wenig Mut, seine eigene Kompetenz zu hinterfragen und viel Veränderungswillen.

Was wären aus Ihrer Sicht die nächsten Schritte, um ein ähnliches Vorgehen wie das Ihre in der Breite umsetzen zu können?

Prof. Dr. Bergner: Als erstes muss es uns gelingen, das angestrebte Setting aus 360°-Videografie und Beobachtung mittels VR-Brillen mit der entsprechenden Reflexions-App technisch umzusetzen und in der Lehre (hoffentlich erfolgreich) zu erproben. Im Anschluss werden wir dieses Setting mit Akteur:innen anderer Fachdidaktiken und auch den Bildungswissenschaften bei uns im Teaching Lab erproben. Auch erstellen wir ein Anforderungskonzept, welches die technischen Rahmenbedingungen beschreibt, die erfüllt sein müssen, um das Setting auch außerhalb unseres Teaching Lab umzusetzen. Wir hoffen, viele Akteur:innen in der Lehrkräftebildung überzeugen zu können, diese neue Möglichkeit zur Verbesserung der Lehrkompetenz zu nutzen.